Donnerstag, 25. Juli 2013

25

mittwoch, 17. juli

Heute ging es normal zur Arbeit. Ausnahmsweise hatte ich ein längeres Gespräch mit meiner Mitfreiwilligen während der Arbeitszeit, es gab allerdings auch wenig zu tun. Wir überlegten uns, wie wir die nächsten Wochen gestalten wollten.

donnerstag, 18. juli

Um die Kinder auf der Busfahrt ruhig zu stellen, sangen wir wieder „Drei Chinesen mit dem Kontrabass“ und es funktionierte einwandfrei. Mittlerweile kannten sie den Text schon so gut, dass man nach der Ankunft in Achocalla den ganzen Tag jemanden „DRO CHONOSEN“ singen hören konnte. Heute hatte ich meine Bande das erste Mal richtig im Griff und als sie gingen überhaupt nicht ausgelaugt. Wenn man weis, was man erreichen will, und die Kinder dies spüren, fällt vieles leichter.
In der Mittagspause machte ich einen kleinen Spaziergang durch die Umgebung und blieb bei einem Haus mit riesigem Kakteengarten stehen. Eigentlich wollte ich ein paar Kaktusfeigen kaufen, doch die einzige Person die ich traf, war eine gebrechliche Frau, die nur Aymara sprach. Sie verstand mich ebenso wenig wie ich sie, nicht einmal Arme fuchteltn konnte weiter helfen, da sie nahezu blind war. Als ich gerade gehen wollte, kam ihr Sohn vorbei, der Spanisch sprach und mir eine Tüte der entstachelten Feigen verkaufte.
Nachmittags kamen 5 Kinder Achocallas ins Projekt und ich gab ihnen eine kleine Fußballtrainingsstunde. Nicht einmal die Grundtechniken des Fußballs wie passen, annehmen, zusammen spielen werden den Kindern im Sportunterricht beigebracht, der fast nur aus Fußball besteht.
Seit meinem Umzug fahre ich jeden Morgen und jeden Abend über El Alto zur Arbeit und nach Hause. Eigentlich ging das um ca. eine halbe Stunde schneller als über die Zona Sur und den Feierabendstau. Doch mittlerweile merkte ich, das das chaotische Fahr- und Straßensystem El Altos ebenfalls ständigen Stillstand produzierten. Heute dauerte der Nachhauseweg wieder ewig, was allerdings auch daran lag, dass ich in eine andere Busnummer eingestiegen war. Statt über die Hauptstraße zum Endpunkt CEJA zu gelangen, machte der Bus eine Rundfahrt durch El Alto. Da nahezu alles gleich aussieht, würde eine 10-minütige Rundfahrt völlig reichen. Meine endete, als der Bus nach eineinhalb Stunden durch die Hexengasse tuckerte.
Auf beiden Straßenseiten standen dicht aneinander gereiht, kleine Gestelle, die mit blauer Plane überzogen waren. Die blaue Plane ist ein nahezu sicheres Indiz, dass in dieser Unterkunft mit übernatürlichen Kräften gearbeitet wird. Hinter den Eingängen verstecken sich seltsame Zutaten, die man käuflich erwerben kann. Mumifizierte Lamaföten gehören hier noch zum Standardinventar. Man kann sich auf unterschiedliche Weisen, wie z.B. Kokablatt lesen, in die Zukunft schauen lassen. Es gibt jedoch auch Meister, die einem von Schwüren befreien oder neue legen können. Die Sonne war beinahe untergegangen. Vor jedem blauen Zelt loderten Feuerstellen in der Dämmerung. Das verbrennende Geruchsholz verbreitete einen seltsamen Duft. Kinder spielten auf der Straße und Hexenmeister baten mich bei ihnen einzutreten. Nur das Vorbeilaufen war bereits ein magisches Erlebnis. Ich fühlte mich ein wenig mulmig, was wohl auch daran lag, dass nahezu alle Augen auf mich gerichtet waren. Vielleicht sogar die, die hinter den blauen Planen in Gläsern eingelegt waren. Was ein Gringito in dieser Straße verloren hatte, konnten wohl selbst ihre Voraussagungen nicht erklären. Irgendwann hatte ich den seltsamen Ort hinter mir gelassen und stieg in den Bus Richtung Heimat. Zum Glück hatte ich mich nicht verlaufen, denn zur Dunkelheit konnte es als auffälliger Weißer in diesen Vierteln ein bisschen ungemütlich werden.

freitag, 19. juli

Meine Arbeit bestand heute im Lama, Alpakaversorgen. Das hieß Kot wegräumen, Wasserschalen putzen, Essen geben, allerdings auch die süße Eulalia mit Milch zu füttern. Sie sprang umher und rannte mit gesenktem Kopf durchs Gehege um ihr Gleichgewicht nicht zu verlieren. Tierbabies könnte man stundenlang bei ihren unbeholfenen und trotteligen Bewegungen zuschauen, doch ich musste auch noch die Spielsachen in den Klassenzimmern sortieren. Auf einmal wurde mir schlecht und ich konnte es nur noch liegend auf dem Boden aushalten. Was hatte ich jetzt schon wieder Falsches gegessen? Den Nachmittagskindern war mein Unwohlsein egal, der Lehrer musste mitspielen, egal wie er sich am Boden krümmte.
Es war als hätte man mich all meiner Kräfte beraubt und ich schaffte es nach strapziöser Fahrt gerade noch nachhause ins Bett. War ich gestern in der Hexengasse in einen Fluch getreten?

samstag, 20. juli

Ich blieb ans Bett gefesselt.

sonntag, 21 juli

Meine Gastfamilie pflegte und hegte mich, doch aus dem Bett konnte ich noch immer nicht steigen.

montag, 22. juli

Mir ging es wieder besser und so ging es zur Arbeit, Tomatenstangen schnitzen und Ordnung ins Chaos der halbfunktionstüchtigen Spielzeuge bringen. Auch zuhause war die Ordnung ja ein großes Problem, weswegen mein Mitbewohner und ich entschieden eine große Mülltonne als Geburtstagsgeschenk für unsere Gastmutter zu kaufen. Kein besonders herzliches, dafür umso praktischer und dringend benötigtes Geschenk. Die Mülltüten, die sich im Hof stapelten und von unseren Hunden nach Essbaren durchsucht wurden, waren keine adäquate Innenhofverschönerung.

dienstag, 23. juli

Die Kinder hatte ich auch heute gut im Griff und so entschied ich, einen kleinen Spaziergang mit ihnen zu unternehmen. Zumal es nicht die Kleinen waren, die überall entwischen konnten, sondern die Großen, die schon ein wenig über die Folgen ihres Handelns nachdachten. Wir verfolgten den vertrockneten Flusslauf, ich erklärte ein wenig über Pflanzen und wie es kommen konnte, dass der Fluss gerade Urlaub machte. Überall entdeckten sie gespenstische Formen. Eine Wurzel war auf einmal das abgefallene Horn des Teufels und ein roter Stein ein Drachenei. Sie steigerten sich dermaßen in ihre Gruselgeschichten hinein, dass sie es an diesem seltsamen Ort mit der Angst zu tun bekamen. Als wir ein harmloses Loch passierten, sahen sie darin die Höhle eines Ungeheuers, erschreckten sich so stark, dass sie schnurstraks zurück zu Suma Qamaña rannten.
Dieses Faible für Horrorgeschichten stammt aus dem Gefängnis, wo Mütter und Geschwister ständig Geschichten über die Unterwelt zum Besten geben. Diese Schauermärchen hatten sich wohl schon so stark in Köpfen der Kinder eingebrannt, das sie manchmal ohne Grund Gespenster sahen. Ich hatte mich schon häufiger gewundert, warum sie im Projekt so häufig über Gespenster sahen oder nicht mehr kommen wollten, weil es hier spukte. Schon zum zweiten Mal innerhalb einer Woche war ich Zeuge des stark ausgeprägten Aberglaubens der bolivianischen Andenregion geworden.
Ich durfte früher gehen um zuhause am Geburtstagsessen meiner Gastmutter teilzuhaben.

Wir aßen, plauderten nett und genossen die Sonnenstrahlen im Hof.

Freitag, 19. Juli 2013

24

mittwoch, 10. juli

Die Krankheit streckte mich immer noch dahin und ließ mich kaum aus dem Bett aufstehen. Freitags hatte ich frische Milch aus dem Projekt mitgebracht, die mittlerweile leider nicht mehr ganz so frisch war und nur noch zu Quark verarbeitet werden konnte.

Vielleicht wäre es an dieser Stelle einmal Zeit, meinen neuen Wohnort und die Gastfamilie vorzustellen.
Ich wohne mittlerweile nicht mehr in der reichen Zona Sur, sondern oberhalb des Zentrums in der Nähe der Märkte zwischen Hauptfriedhof und Busterminal. Erzählt man Paceños von diesem Distrikt als Wohnort erhält man verwunderte Blicke. Mit nahezu hundertprozentiger Wahrscheinlichkeit sind der andere Freiwillige und ich die einzigen lebenden Europäer oberhalb des Zentrums. Es sei gefährlich, hässlich und kalt, bei Nacht solle man sich gar nicht erst vor die Tür bewegen. Hässlich trifft zu, wie auf nahezu den ganzen Rest der Stadt. Zur Kälte: es mag tatsächlich einen Grad kälter sein als in der tiefer gelegenen Zona Sur. Es mochte vielleicht ein wenig gefährlicher sein, aber letztendlich benötigen Paceños Stereotypen um sich das Leben leichter zu machen. Stereotypen helfen ihnen außerdem in einem Gespräch auf das gleiche Endergebnis zu kommen um einem Streit aus dem Weg zu gehen. Ein Wohnort ist zugleich Statussymbol mit dem geprahlt werden kann. Mein neues Wohnviertel fällt zwar weit aus der Statuslinie gefällt mir aber umso besser. Es ist authentisch bolivianisch, d.h. etwas abgehalftert dafür lebhaft und zentrumsnah. Alles was Achumani, mein vorheriges Wohnviertel nicht ist.

Das Haus gehört der Familie, in der jeder Nachkömmling ein Stockwerk besitzt. Die gesamte Grundstücksfläche ist etwa gleichgroß wie die meines Exhauses, nur das sich nun nicht fünf sondern sechzehn Nasen die Fläche teilen. Es gibt keinen von Gärtnern gepflegten Garten mit Rasen und Grilllaube, sondern stattdessen einen Betonhof in dem ein ausgebauter Campinghänger steht. Statt drei Autos hängt an der Hauswand ein selbstgebauter Basketballkorb.
Im Erdgeschoss lebt meine Familie. Gastmutter und Gastvater besitzen ein Schlafzimmer, das sie momentan mit meiner 22-jährigen Gastschwester teilen. Nebenan schläft mein 16-jähriger Gastbruder, der vor einer Woche von seinem Austauschjahr aus Amerika zurückkam. Er schläft im Zimmer seiner Schwester, da seins durch den anderen Freiwilligen belegt ist. Meine 34-jährige Gastschwester wohnt noch zuhause in ihrem Zimmer. Des Weitern gibt es ein kleines Bad, bei dem ich mich die ersten Tage zum Duschen überwinden musste, da man es also schlecht gereinigt bezeichnen könnte. Das zweite noch kleinere Bad befindet sich im Hof. Die Ein-Bad-Pro-Bewohner-Politik aus Achumani würde hier schon aus Platzmangel scheitern. So gibt es noch das Durchgangs-Couch-Bibiolthek-Trocken-Einmüllzimmer, die kleine Küche und das Ess-Näh-Altarzimmer, in dessen Ecke nun mein Bettchen steht.

Die ersten Tage war immer etwas los. Statt zuvor so spät wie möglich zur Eingangstür hineinzuschleichen, konnte ich es jetzt kaum erwarten wieder zuhause zu sein. Jeden Abend wurde nach dem gemeinsamen Abendtee noch lange zusammen gesessen und Geschichten ausgetauscht. Meist waren wir nicht alleine sondern Freunde meiner Gastgeschwister belebten das Appartement zusätzlich. Mein Gastbruder erfüllte die Wohnung druchgehend mit Gitarrenklang, dem ich langsam, so schön er auch sein mochte, die Stille vorzog. Die war im gesamten Haus schwierig zu finden. Durch die dünnen Fenster wehten ständig Straßengeräusche hinein. Die ersten Nächte wurde ich von plötzlichen Bellanfällen, der dummen Haushunde Gorda oder Cosmo, aus dem Schlaf gezerrt. „Stubenrein“ schien den beiden Kötern sowohl auf spanisch als auch auf hundisch ein Fremdwort zu sein. Zimmertüren mussten immer verschlossen werden, außer man wollte sein Territorium neu markiert haben oder Socken suchen gehen. Auch in Achumani hatte ich jedoch schon einmal das Vergnügen neben einer wohlriechenden Wurst, die über Nacht ins Zimmer geschwebt war, aufzuwachen.
Zusammengefasst hatte ich nach dem Umzug etwas an Komfort, Ruhe und Privatsphäre eingebüßt, jedoch in Wärme, Freude und Zusammengehörigkeitsgefühl eingetauscht. Ein mehr als fairer Tausch und eine der großen Lehren dieses Jahres für mich. Alle schönen Dinge können menschliche Wärme nicht ersetzen.  

donnerstag, 11. juli

Auch heute war es nichts mit Arbeit. Meine Gastschwestern samt –cousins überredeten mich dennoch am Pasta- und Weinabend teilzunehemen. Leider konnte ich am Genuss nicht teilhaben, da Geschmacksnerven und Appetit noch immer blockiert waren.

freitag, 12. juli

Heute Abend sollte ich einen weiteren Teil der Gastfamilie kennen lernen. Meine Gasttante und ihren Sohn. Die Tante wohnte im Gegensatz zu uns in einem großen Anwesen. Hier gab es nicht das Problem, dass dreckiges Geschirr die Küche blockierte, da eine Empleada, im Haus wohnte sich diesem annahm. Ein Betten- und Platzmangel wäre hier auch fremd gewesen. Alle Zimmer des Hauses waren dezent, stilvoll und gemütlich eingerichtet, so dass man sich wohl kaum in einem bolivianischen Haushalt befinden konnte. Doch ohne Bewohner erinnert selbst das schönste Haus an ein Einrichtungshaus. Der riesige Garten wurde von Hunden und gerade gejäteten Unkraut bevölkert. Obwohl der Cousin schon studiert hatte und bereits seit einigen Jahren als selbstständiger Grafikdesigner arbeitete, wohnte er noch immer im Anbau bei Mutti. Der Anbau war absolut modern eingerichtet und hätte in Europa als Beispiel für jugendliches Wohnen herhalten können. Die vielen Actionfiguren und Videospiele im Schrank waren wohl Überbleibsel und Indikatoren des noch immer gehätschelten Sohnemanns. Mit zwei Familienpizzen und Eis bewaffnet, machten sich mein bolivianischer Gastbruder, mein deutscher Gastbruder und meine zwei über dreißigjährigen Gastcousins an einen Videospielabend. Ich fühlte mich als vierzehn/fünfzehnjähriger zurück gesetzt. Eine sorgenfreie Zeit.

samstag, 13. juli

Nach dem mich die drei wunderschönen Hunde meines Gastcousins wach geschleckt hatten, gab es Frühstück. Wir sollten noch kurz zum Mittagessen bleiben. Als wir um acht Uhr abends das Haus verließen hatten wir einen weiteren Teil der Verwandtschaft kennen gelernt. Eine nette Runde, in der gesungen und gegessen wurde und man jedem erklären musste wer man war und was man machte. Als meine Gasttante begann die Frauen zum Spülen, Basteln und sich um die Kinder Kümmern zu animieren und die Männer unter sich Gespräche führen lies, war ich verwundert. Eine aktive Feministin, wie sie meine Gasttante ist, trägt absichtlich zur Geschlechtrennung bei? Irgendetwas stimmte mit meiner Logik nicht überein. Der gesamte Tag half die Beziehungen innerhalb der Familie zu verstehen und warum meine Gastfamilie, die komplett anders gestrickt war mit diesem Teil wenig zu tun haben wollte.

sonntag, 14. juli

Obwohl ich keinen übertriebenen Sauberkeitsfimmel besitze, zogen mich das ganze dreckige Geschirr und der unappetitliche Küchenboden wie magisch zum Saubermachen an. Das wird mir in diesem Haus wohl noch häufiger passieren. Den Hausfrauentag machte ich mit mehrstündigem Kochen endgültig perfekt. Zum Dank für all ihre Mühen kochte ich der Familie Rösti mit Geschnetzeltem. Der Käsekuchen aus selbst gepresstem Quark machte jedoch Probleme. Der Höllenofen hatte ihn bereits nach fünfzehn Minuten fertig gebacken und die Kruste anbrennen lassen. So schnell werde ich den unkontrollierbaren Gasofen wohl nicht mehr einsetzen. Erschöpft von einem Tag in der Küche und all dem Probieren ging es ins Bett.

montag, 15. juli

Der Weg zur Arbeit dauerte nur zwei Stunden statt sonst der Hälfte. Einen Tag vor dem großen Jahrestag zur Gründung von La Paz hatte jede Kleinstgemeinschaft vom Lehrerkollegium bis zum Truthahnclub zum Marschieren aufgerufen. Die einzigen Zugangsstraßen sind wohl der Beste Ort um seinen Stolz kundzutun. Im Projekt war ich beschäftigt Stangen für die Tomaten zu schnitzen. Außerdem machte ich Bekanntschaft mit Eulalia. Das kleine Alpakababy war letzte Woche während meiner Krankheitsabwesenheit geschlüpft. Der Weg zurück nahm wieder 2 Stunden in Anspruch, da nun auch der Club der Ausschläfer seinen Marsch begonnen hatte. Endlich zuhause gingen wie mit meiner Gastschwester und Freunden zum Lasagneessen und anschließend aus.
In allen Straßen brannten Feuer, saßen Cholitas, die Essen und Hochprozentiges verkauften. Aus Stangen waren zeltähnliche Gebilde aufgebaut an denen grün-rote Lampions hingen. Die Farben der Stadt La Paz. Zwischen Cholitas und Gestängen ragten rießige Boxentürme hervor, die in schlechter Qualität „Musik“ herum plärrten. Es schien als wollte ganz La Paz zur Straßenfiesta werden.
In einer Bar waren wir damit beschäftigt einen fanatischen Bolivianer, der Deutschland liebte, abzuwimmeln. Er war so froh, dass unser Land „etwas“ gegen die Juden unternommen hatte, dass er unsere Gegenargumentation links liegen lies und uns zum Ausdruck seines Dankes seinen Kaschmirschal schenkte. Abzulehnen hatte keinen Sinn und ich beschloss um solchen Generve in Zukunft aus dem Weg zu gehen, bei Herkunftsfragen wieder mit Slowakei zu antworten. Zur Feier des Tages gingen wir zum ersten Mal nicht in einen Gringoladen aus, was wir auch gleich bereuen sollten. Es war nicht viel los und bis auf ein paar Singleseñoritas war keiner begeistert als wir in den Club eintraten. Weder die Achtziger noch die Neunziger konnten uns vom Tanzen abhalten. Erst als mein deutscher Mitbewohner plötzlich auf dem Klo verschwand, war die gute Stimmung dahin. Er hatte etwas in den Drink bekommen und k.O. lag er nun da. Zum Glück waren wir zu mehreren und konnten ihm helfen. Alleine hätte es auch ganz anders ausgehen können. Sein Geldbeutel war trotzdem weg. Das war wohl einer der letzten Besuche im einheimischen Nachtlokal.

dienstag, 16. juli

Als Festessen stand heute Zunge, Magen und Hasenkeule auf dem Speiseplan. All diese Köstlichkeiten wurden auf dem Markt gekauft. In den Straßen und Rinnsteinen schliefen mehr Nachteulen als sonst ihren Rausch aus. Zum ersten Mal seit meinem Einzug war die gesamte Familie im Haus. Nach einem Kochmarathon bei dem jeder seinen Part erfüllt hatte, stand eines der schmackhaftesten Essen, die ich bis jetzt in Bolivien verzehrt hatte auf dem Tisch.


Mittwoch, 10. Juli 2013

23

mittwoch, 3. juli

Nach dem gestrigen Chaos mit den Kindern, beredeten wir heute, wie wir in Zukunft ein erneutes Waterloo vermeiden wollten. Gemeinsam mit der Direktorin überlegten wir uns einige Ideen. Die Runde verlief sehr positiv wie alle Planungsgespräche, die ich bis jetzt in Bolivien miterleben durfte. Ob bei der Arbeit, im Fußball oder etwas mit Freunden unternehmen, im Ideenansatz lagen alle nahe an der Perfektion, doch an der Ausführung hatte bis jetzt immer gemangelt. Hoffen wir diesmal auf das Beste. Nachmittags war ich damit beschäftigt mit dem Pickel einen Platz für das Tierfutterstroh in die Erde zu hacken.

donnerstag, 4. juli

Vor zwei Wochen war die Gründerin und Präsidentin Silvia der Stiftung und des Projekts aus Buenos Aires eingetroffen. Sie wollte sich in den nächsten Wochen einen Überblick über Suma Qamaña schaffen, um dann mit neuen Ideen dem Projekt einen Anschub zu verpassen. Boliviens Regierung beschloss vor einigen Wochen den Fokus des Lehrplans zu ändern. In Zukunft sollte die Natur mit all ihren Themen im Mittelpunkt stehen und außerdem eine Verbindung zwischen den Fächern hergestellt werden. Als ausgebildete Pädagogin, die seit Jahren in diesem Lehrbereich forscht und Bücher veröffentlicht, möchte sie Lehrern in Seminaren auf unserem Gelände ihre Erkenntnisse mit auf den Weg geben und helfen den Sinn hinter den neuen Lehrmethoden vermitteln. Heute sollte der Anfang dieses Projekts stattfinden, bei dem Suma Qamaña beiläufig zu einer Einnahmequelle verholfen, als auch dessen Bekanntheit gesteigert werden sollte.
Um zu sehen, ob diese Idee umsetzbar wäre, begannen wir heute mit allen Schuldirektoren aus Achocalla, dem Distrikt in welchem sich Suma Qamaña befindet. Auch für die andere Freiwillige und mich könnte es sehr lehrreich sein, Tipps zum Umgang mit Kindern und Lehrmöglichkeiten zu erhalten. Bis jetzt mussten wir uns wohl eher auf Gefühl und Improvisation bei der Arbeit mit den Kindern verlassen, was häufiger noch mehr Probleme produzierte anstatt sie zu lösen.
Die Direktoren sollten heute in die Rolle von Kindern schlüpfen, um so die Wirkung der neuen Methoden zu erleben. Bevor es losgehen konnte, mussten wir jedoch noch vor deren Ankunft alles Mögliche vorbereiten. Das hieß Arbeitsblätter kopieren, sortieren und zusammen tackern, einen Präsentationsraum herrichten und Stühle schleppen, ... Warum man dies nicht schon die letzten Tagen, statt im letzten Stress vorbereiten konnte, war die bolivianische Frage.
Die Direktoren sangen, lernten in einer Präsentation und einer Art Schnitzeljagd das Projekt kennen und wurden beim Kochen mit hauseigenen Zutaten eingebunden. Sie waren sehr interessiert, diskutierten angeregt über die spielerischen Methoden und waren am Ende so begeistert, dass sie uns ankündigten bald mit ihrem gesamten Kollegium bei uns einzutreffen.
Der Tag war also ein voller Erfolg. Ich war die ganze Zeit als Fotograf und Assistent beschäftigt und half bei Fragen über Tiere und Pflanzen mit Erklärungen.
Eigentlich hatte meine Gastfamilie, schon seit Monaten geplant gemeinsam dienstag in die Salzwüste Salar Uyuni fahren, doch das Projekt hatte sein Veto eingelegt. Der heutige Donnerstag sei eines der wichtigsten Events des Jahres, das ich auf keinen Fall verpassen konnte. Meine Tätigkeit und Lehrerfahrung des Tages lag jedoch gegen null.
So brachen wir nach komplizierter Umplanung erst heute Abend auf. Obwohl das Busterminal nur 5 Minuten Fußweg von zuhause weg liegt, schafften wir es, den Bus zu verpassen, der glücklicherweise für uns noch einmal umkehrte.
Meine Arbeitswoche, der Stress des Umzugs der Vorwoche und der daraus resultierende Schlafmangel hatten mich so müde gemacht, dass ich im Bus sofort einschlief.

freitag, 5. juli

Anscheinend war ich der Einzige der auf der Horrorholperstrecke nach Uyuni geschlafen hatte. Der Rest der Familie hatte es anhand ihrer Augen und Klagen wohl nicht. Ich musste wohl sehr müde gewesen sein, da ich sonst der letzte bin der in Bussen schlafen kann, erst Recht auf Boliviens Schotterpisten. Kaum aus dem Bus ausgestiegen, wurden wir schon wild von Verkäuferinnen belagert, die der Hoffnung waren uns noch eine Tour an drehen zu können. Wir waren jedoch schon versorgt und wurden sogleich von unserem Guide abgeholt. Nach einem kleinen Frühstück und Gang durch den Ort Uyuni, der ohne Zweifel als Schauplatz für einen Western hätte dienen können. Staubige, leere Straßen, spärlich wachsende Bäume, Häuser deren Putz kaum noch bröckeln konnte, ab und an Personen, die mit ins Gesicht gezogenen Hut im Hauseingang hockten. Dazu fegte ein Wind, der durch die Gassen fegte, der den Straßenhunden die Hängeohren nach oben blies. Dann begann die dreitägige Tour durch die Salzwüste und ihre surrealen Landschaften.

samstag, 6. juli

sonntag 7. juli

Bevor in den Bus nach La Paz stiegen gingen wir noch zu Abend essen. Gar nicht so leicht, wenn die Bedienung eines Restaurants nur Aymara und kein Spanisch weder rechnen kann und man Sonderwünsche stellt. Meine Gastschwestern erteilten mir anschließend eine Lehrstunde wie Frauen ihre Notdurft in der Straße verrichten. Eine bolivianische Spezialität.

montag, 8. juli

Diesmal kam ich im Bus nicht zum Schlafen. Nach gefühlten 50 Stunden im Auto in den letzten drei Tagen war ich doppelt glücklich endlich aussteigen zu dürfen. Die Arbeit musste ich auch ruhen lassen, weil ich ruhen musste.   

dienstag, 9. juli

Irgendwie hatte ich mich bei Gastbruder und Mutter angesteckt und lag flach.


22

mittwoch, 26. juni

Vor einer Woche traf eine spanische Architektin von Architekten ohne Grenzen im Projekt ein. Sie wird auf dem Gelände nebenan, das ebenfalls zu meiner Stiftung gehört, bis Ende Oktober ein Bauprojekt abschließen. Um einige der Kinder dauerhaft außerhalb des Gefängnisses unterzubringen werden 5 Wohneinheiten für jeweils fünf Kinder plus einen Lehrer gebaut. Jede Wohneinheit besitzt Schlafräume, Küche, Bad und Aufenthalts-/Esszimmer. Der gesamte Komplex wird zudem durch einen großen Aufenthaltsraum, einen Nutzgarten und ein kleines Gehege ergänzt. Drei der fünf Häuser wurden bereits letztes Jahr fertig gestellt, der Rest soll nun mit neuem Geld folgen. Es werden Arbeitskräfte benötigt und ich bin mehr als willkommen zu helfen. Diese Baustelle kommt wie gerufen für mich. Momentan gibt es an den kinderfreien Tagen leider wenig zu tun und ich spiele schon seit langem mit dem Gedanken Architekt zu werden. Meine Arbeitszeit kann ich also im doppelten Sinne nutzen. Ich werde gleichzeitig helfen und dabei etwas über das Bauen, Mitarbeiterführung und Wertstoffplanung lernen. Die Pläne stehen bereits und müssen nun an das Gelände angepasst werden. Heute durfte ich beim Grundrissemarkieren helfen. Um die runden Formen exakt auf den Boden zu bringen, wurde aus Draht und Eisenstift ein improvisierter Zirkel gebaut, mit dem wir den Grundriss in den Boden ritzten. Anschließend wurden die Markierungen mit Kalk bestreut um zu wissen, welche Bodenpartien für das Fundament heraus gegraben werden mussten. Es machte Spaß und ich hoffe, ich werde die nächsten Wochen noch häufiger die Chance haben, hier zugegen zu sein.

donnerstag, 27.juni

Auch heute kamen die Kinder nicht, die Angst nicht wieder eingelassen zu werden war zu groß. Dafür erfuhren wir heute, dass die Gefängnismütter Suma Qamaña nicht mehr trauten. In einem Fernsehbericht war die Frage aufgekommen, ob es denn schon Kapazitäten geben würde, wo alle Kinder ab Ende des Jahres untergebracht werden könnten. Ein Regierungssprecher gab zu Antwort, dass man mit vielen Organisationen in Kontakt stünde und Suma Qamaña schon jetzt 100 Kinder zum Wohnen aufnehmen könne. Pure Blufferei um von einer undurchdachten Entscheidung abzulenken. Mit uns hatte natürlich keiner gesprochen. Stattdessen warten wir noch immer auf das Einlösen unseres Vertrages mit der Regierung. Seit Januar hätte uns Geld für Transport, Essen und Unterbringung der Kinder überwiesen werden müssen. Bis heute erreichte Suma Qamaña kein Centavo. Dabei war Anfang des mit großen Bimbamborium und Fernsehdelegation dieser wichtige Schritt „für unsere Kinder“ vollzogen worden. Sich jetzt auf uns zu berufen, war einfach nur dreist und ein schwerer Imageschaden für uns. Die Mütter werden so schnell kein Vertrauen in einer Organisation finden, die ihnen ihre Kinder wegnehmen will. Über die bolivianische Regierung kann man des Öfteren nur den Kopf schütteln.
Nachmittags half ich noch einmal bei der Baustelle mit.
Abends fuhr ich das erste Mal über El Alto Richtung Stadt. Heute wurde mein neues Bett im neuen Zuhause aufgebaut. Nach einem kleinen Abendessen im neuen Familienkreis fuhr ich durch die ganze Stadt zum Nochhaus. In meiner Nochbleibe durfte ich mir weiter nichts vom bevorstehenden Wechsel anmerken lassen, was nicht weiter schwer war, da alle Familienmitglieder ausgeflogen schienen.  

freitag, 28. juni

Heute Morgen hatte ich bereits mit dem Packen begonnen. Alle Schränke waren leer und mein Rucksack voll. Ich konnte es kaum noch abwarten. Plötzlich stand meine Gastmutter im Zimmer, was sonst nie geschah. Außer der Empleada wusste noch keiner im Haus Bescheid, dass ich morgen umziehen würde. Eine Schrecksekunde. Zum Glück war schon alles im Rucksack verstaut. Noch vor ein paar Minuten war in meinem Zimmer ein Haufen zusammengelegter Klamotten und sonstiger Habseligkeiten gelegen. Hätte sie das gesehen, wäre ein unangenehmes Gespräch unausweichlich geworden.

Im Projekt hatte ich vor Tagen die Idee gehabt den gesammelten Lamakot in einer Jauchegrube zu sammeln, um ihn dann als Dünger für unsere Nutzgärten zu verwenden. Zwar war er bereits vorher als Dünger verwendet worden, doch unzersetzt und in ganzen Stücken nützen die trockenen Köttel dem Boden so wenig wie ins Beet gelegte Steine. Ich verkleidete also ein Loch mit Plastikplane und schaufelte die Exkremente hinein. Anschließend goss ich Wasser dazu um das Gemeng richtig schmackhaft zu gestalten.
Abends erfuhr ich dann warum meine Gastfamilie die letzten Abende immer erst spät nachhause gekommen war. Der Onkel, den ich sehr gern hatte, lag im Krankenhaus. Ein Problem mit seiner Leber hatte seine Haut und Augen gelb gefärbt und er war gerade noch rechtzeitig eingeliefert worden. Schön, dass man eine solche Information 3 Tage später auch endlich erfährt. Sie hatten währenddessen von AFS erfahren, dass heute unser letzter gemeinsamer Abend anstand. Es gab Pizza und Versprechen auf jeden Fall weiter in Kontakt zu bleiben, da wir eine so tolle gemeinsame Zeit gehabt hatten. Wir redeten noch ein bisschen ausführlicher und es gab von beiden Seiten kleine Schuldeingeständnisse. Außerdem interessierten sie sich das erste Mal ernsthaft für meine Arbeit. Sie waren bestürzt, dass es über 1000 Kinder in La Paz gibt, die im Gefängnis wohnen müssen. Als normaler Bürger hätte man doch überhaupt keine Möglichkeit an solche Informationen zu gelangen. Auch das mir ständig Drogen angeboten würden, lies sie ungläubig dreinblicken. Drogen an öffentlichen Plätzen, das könne nicht sein. Was seien denn die Preise und seien es gute Waren? Mir wurde wieder bewusst in welch abgekapselter Welt sie lebten und war froh ab morgen in einer Familie zu leben, die vor den hiesigen Missständen die Augen nicht verschloss und offen darüber redete. Andererseits waren die Wochen seit dem Vorfall sehr angenehm verlaufen und ich hatte mich hier wieder wohl gefühlt. Es war dennoch die richtige Entscheidung zu gehen, denn es war nur eine Frage der Zeit bis wieder etwas Seltsames, ein unvorhergesehener Ausbruch oder eine Beschuldigung geschehen würde. Die fehlende Verbindung zwischen ihnen und mir würde nie hergestellt werden können. Außerdem war es in diesem Haus einfach langweilig.

samstag, 29. juni

Gegen sechs Uhr stand ich auf um alles vorzubereiten. Die letzten Sachen wurden verpackt. Ich wollte sie auf ein leckeres gemeinsames Frühstück einladen. Die am Vortag gekauften Früchte wurden für einen Fruchtsalat geschält und geschnitten, der Tisch gedeckt und gewartet bis mein Gastvater aufstand um mit mir Salteñas kaufen zu gehen. Wie alles in der Zona Sur waren sie etwas teurer als normal, dafür ausgesprochen lecker und frisch zubereitet. Das Frühstück verlief bis auf das nicht alles aufgegessen wurde ohne Zwischenfälle. Meine Sachen und ich waren abfahrtsbereit aber der letzte Lockenwickler meiner Gastmutter musste noch gesetzt werden. Wir kamen mehr als eine Stunde zu spät am AFSbüro an. Sie hatten schon angerufen und gefragt, ob meine Familie mich nicht gehen lassen wollte. Der Abschied verlief schmerzfrei und kurz und wir verhandelten, dass wir morgen gemeinsam den kranken Gastonkel im Krankenhaus besuchen würden. Mit dem Taxi und der AFS-Mitarbeiterin ging es weiter Richtung jetzt offizieller Gastfamilie. Es war einer der wenigen Taxifahrer in La Paz, die ich bis jetzt ausschweifend reden gehört hatte.
Als wir all meine Sachen ausgepackt hatten, wurde ich freundlich zuhause wilkommen geheißen, es wurde ein gemeinsamer Tee mit der AFStante getrunken, die dabei los ließ, dass sie meine Exgastfamilie ebenfalls nicht leiden konnte, vor allem die Mutter für unberechenbar hielt. Ich räumte alles ein und legte mich erst einmal aufs Bett. All die Sachen, die ich die letzten Tage von der frühen Morgen- bis zur späten Abendstunde erledigt hatte, machten sich bemerkbar. Es war vollbracht, eine wahre Last fiel von meinem Körper.

sonntag, 30. juni

Mit meiner neuen Gastschwester ging ich nachmittags nach El Alto, auf die Feria 16 de Julio. Die Straßen eines ganzen Stadtviertel sind gefüllt mit allen Sachen, die man sich zu kaufen vorstellen kann. Vom Flugzeugsitz bis zum Pinguin, von 3m-Plüschbären bis zu gebrauchten Designerklamotten aus den USA. Und alles zu günstigsten Preisen. Ich wollte lediglich ein paar alte Klamotten erwerben, da meine Kleidung durch die viele körperliche Arbeit im Projekt doch sehr in Mitleidenschaft gezogen wurde. Für 3€ hatte ich am Ende des Tages neue Hausschuhe, eine gebrauchte Jeans, zwei Pullover zum Arbeiten, eine warme Jacke gekauft und zusätzlich noch einen Teller „Ranga“ – Kuhmagen mit Salat und Kartoffeln gegessen. Den meisten Spaß hat man jedoch beim Beobachten all der seltsamen Objekte die zu Verkauf stehen. Eine Straße ist z.B. mit ausgebauten Autoteilen gefüllt, von denen man selten den exakten Einsatzort erahnen kann, da sie bis zur kleinsten Mutter auseinander geschraubt wurden. Auch Verkaufsgesprächen zu lauschen hat seinen Unterhaltungswert. Jeder möchte seinen letzten Kram an den Mann bringen, sobald man seinen Blick zu lange auf etwas gerichtet hat. „Llevarte pues joven!“ – „Nimm’s doch mit, Junge!“
Eine Verkäuferin wollte dem Freund meiner Gastschwester eine Lederpeitsche verkaufen. „Nimm sie doch für deine Ehefrau mit.“ – „Und was soll sie damit machen?“ – „Geschlagen werden.“ – „Im Ernst?“ – „ Ja, die ist gut. Mein Mann wendet sie auch die ganze Zeit an. Sieh her.“ Unverholen zeigte sie einen Striemen auf ihrer Schulter. Verkaufssprüche wie „Diese wunderbaren Ski bin ich auch schon gefahren“, kennt man ja. Aber gegen ein solches Statement wirken diese nahezu lächerlich. Andererseits erhascht man hierdurch auch einen Einblick in Denkweisen der dörflichen Gesellschaft des Hochlands. Der Mann ist der Herrscher und darf seine Frau behandeln, wie er möchte. Häusliche Gewalt ist hier ein starkes Problem. Alle drei Tage stirbt eine bolivianische Frau an Folgen der Schläge ihres „Liebsten“.
Meine Gastschwester, energische Frauenrechtlerin, war von der Aussage einer Frau, die mit Stolz eine Misshandlung zu Schau stellte, erbost. Nicht über die Verkäuferin sondern die Gesellschaft, die dies als normal hinnimmt.

montag, 1. juli

Meine Gastfamilie ist physonomisch sehr klein, geradezu winzig. Das lerne ich nun auf die neue Art. Ins Bett passe ich nicht einmal diagonal und beim Eintritt in die Küche stieß ich mir verschlafen den Kopf.
Im Projekt kam heute eine neue Freiwillige an, die ebenfalls mit mir in Bolivien angekommen war und ebenfalls Projekt und Familie wechselte. So zeigte ich ihr alles und versuchte ihr Umgangstipps mit den Kindern zu geben, die ab morgen wieder kommen sollten.

dienstag, 2. juli

Die Kinder waren tatsächlich wieder da. Im Bus sang ich mit den Kindern: „Alle meine Entchen“ und „Drei Chinesen mit dem Kontrabass“. Alle Kinder fanden die ungewohnten Lieder samt ungewohnter Sprache enorm witzig und waren so abgelenkt, dass sie gar nicht auf die Idee kamen, sich zu hauen. Sie wollten unbedingt den Text lernen und waren anschließend stolz mir ein spanisches Kinderlied beizubringen. Als wir ankamen, drehten sie auf einmal auf. Die neue Lehrerin war natürlich das Thema. Mein vorbereitetes Programm konnte ich dem Wind trällern, es hatte heute keinen Sinn mit ihnen zu arbeiten. Irgendwie schienen alle aufgewühlt. Vielleicht war die Angst der letzten Wochen bald die Familie verlassen zu müssen noch nicht verblasst. Schuld war allerdings auch die ungewohnte Altersverteilung. Aufgrund der begonnenen Schulferien gab es einen höheren Anteil älterer Kinder, die dienstags normalerweise die Schulbänke drückten. Die Ältern lassen sich noch weniger sagen, haben einen stärkeren eigenen Willen und bei ihren Schlägen fließt normalerweise schnell Blut. Zu genau einer solchen Schlägerei war es gekommen. Beim friedlichen Fußballspiel gab es zwischen einem Mittleren und einem Älteren Unstimmigkeiten, wer den Ball passen sollte. Natürlich flogen sofort Fäuste und Beine. Diese plötzliche Kampfbereitschaft und Aggressivität macht mich manchmal ungläubig. Noch bin ich stärker und konnte die beiden Streithähne am Schlawittich packen und trennen. Als sie sich einigermaßen beruhigt hatten und zur Entschuldigung die Hand geben sollten, setzte es den nächsten Tritt. Es hatte keinen Zweck. Gerade hatte ich den Ältern der beiden der Direktorin übergeben, da machte er sich los, sprang über die Mauer und rannte davon.
Ich ging mit ein wenig Abstand hinterher um ihm keine Angst zu machen. Der Rest meiner Gruppe sollte von jemand Anderen überwacht werden. Er hatte mich mittlerweile bemerkt und machte langsamer, es schien als wolle er, dass ich ihn einhole. Heulend setzte er sich auf eine Mauer. Ich legte meinen Arm um ihn und begann ihn zu beruhigen und mit Nachfragen über Schule, Freunde und Fußball sein Vertrauen zu gewinnen. Es täte ihm Leid, und er wisse, dass er nie wieder zu Suma kommen dürfe, obwohl er diesen Ort so liebte. Er hatte Angst, seine Freunde aus dem Gefängnis und seine Eltern nie wieder zusehen. Bald würde man ihn dort wegreißen. Er würde nur schlecht behandelt werden und keiner würde sich um ihn kümmern. Seine Eltern würde er nur noch alle 3 Monate sehen können. Die Eltern trichtern ihren Kindern wohl gut ein, wie schlimm alle Menschen außerhalb der Gitter sind. Ich hatte also nicht Unrecht mit meiner Theorie gehabt, warum es heute so unruhig gewesen war. Die Regierungspläne über die Gefängniskinder schafften nur Panik. In den Gefängnissen wurden schon die wildesten Theorien gesponnen und den Kindern übertriebene Angst eingejagt. Spätestens jetzt wurde einem wieder mehr als deutlich, welchen Umständen diese Kinder ausgesetzt sind.
Kleine Spiele wie Steinweitwurf und gutes Zureden, bei dem ich ihm deutlich machte, dass sich vieles zum Guten wenden würde, beruhigten ihn. Ich erzählte ihm, dass auch ich meine Eltern seit sechs Monaten nicht mehr gesehen hatte und dass wenn man sich wieder trifft alles beim Alten ist. Nein, seine Eltern würden ihn nicht vergessen.

Ich konnte ihn überreden wieder zum Projekt zurückzukehren. Auf dem Weg zurück und in Einzelbehandlung erzählte er mir tausend Kindheitserinnerungen und blickte wehmütig auf die Fotos im Klassenraum, in dem er sich beruhigen sollte. „Das ist der, und das jener, die lebt mittlerweile nicht mehr im Gefängnis, der auch nicht. Hier haben wir das gemacht, dort das. Das war eine schöne Zeit.“ Ich war stolz nur mit Worten sein Vertrauen gefunden zu haben  und stolz die erste knifflige Situation einigermaßen souverän gemeistert zu haben. Dass die Situation aller Kinder im Gefängnis unzumutbar und dringend geändert werden musste, war wie in meinen Kopf gemeißelt.

21

mittwoch, 19. juni
Heute wurde ich ins Blumengießen und Tiere füttern eingewiesen. Mit einer Sachertorte wurde der Abschied des anderen Freiwilligen ein wenig versüßt.
Familiär war nicht viel los, da ich wieder einmal spät nachhause kam und sich keiner dafür interessierte.
donnerstag, 20. juni
Zum ersten Mal musste ich die Kinder alleine abholen, und fast wäre ein zu kleines mit eingestiegen. Autorität scheine ich noch keine zu besitzen, denn auf mich hört so gut wie keiner. Der Hausmeister, der gleichzeitig Chauffeur ist meinte zum mir, dass nett sein, im Gegensatz zu Anschreien nicht helfe. Ich solle es mal damit versuchen. Nunja, ob mir damit geholfen sein wird.
Ein paar Auffällige meiner Betreuungsgruppe kannte ich mittlerweile bei Namen und Macken. Da allerdings jedes Mal Neue kamen, war es gar nicht einfach die Gruppe im Griff zu halten. All dieses mit Kinder beschäftigt sein, lässt mich immer häufiger an meine eigene Kindheit denken. Vergangene Momente spielen sich im Kopf von Neuem ab. Ich begreife welches Glück ich im Leben hatte. Ich wohnte nicht mit meinen Eltern im Gefängnis. Meine Eltern kümmerten sich immer sehr um mich und brachten mir vieles bei. Ich möchte nicht schleimig schreiben, doch man lernt dieses unheimliche Glück tatsächlich zu schätzen.
Diese Einflüsse öffnen einem neue Denktürchen. Themen wie Pädagogik, Führungsstil und Lernvermittlung kommen einem auf einmal in den Sinn. Wie kann ich hier besser agieren, wie dort, wie verhalte ich mich in dieser Situation richtig? Wie schaffe ich es alle Kinder zu motivieren, mitzureisen und sie gar nicht erst auf dumme Gedanken kommen zu lassen? Man wird sich bewusst, dass das ganze Erziehungsspektrum nicht locker von der Hand läuft, sondern viel Nachdenken und Wissen voraussetzt. Wissen welches ich nicht besitze.
Ich wurde hier jedoch schon häufig ins kalte Wasser geworfen und bin zuversichtlich, es auch dieses mal wieder trocken heraus zu schaffen. Vielleicht sind alle neuen, kleinen Schocks, die es zu meistern gilt, der größte Lerneffekt des außer Landes sein.
Die Kinder verschafften mir erneut einen unentspannten Vormittag. Es ist enorm schwierig alle unter Kontrolle zu halten. Die meisten besitzen eine extrem kurze Aufmerksamkeitsspanne und lassen sich sofort von ihrem eigenen Ziel ablenken. So wird z.B. das Malen oder Puzzeln, das gerade eben noch interessant war, einfach abgebrochen. Gründe gibt es viele: mal wird in der anderen Ecke des Raumes eine Schublade erblickt, in der sich vielleicht etwas Interessantes befinden könnte, dann rennt draußen ein Kind der anderen Gruppe vorbei, das man nun fangen möchte. Außerdem sind die Zeichnungen der anderen weitaus spannender als die eigene. Um das andere Kind zu reizen wird also ein Strich durch die andere Zeichnung gemacht oder am Papier gerissen. Daraus entwickelt sich eine kleine Prügelei, in die andere einsteigen oder die Ablenkung des Aufpassers nutzen um aus der Tür auf den Spielplatz zu rennen. Einfangen nahezu zwecklos. Zum Mittagessen ist man froh, einmal durchatmen zu können.
Dass die Kinder ernsthafte Probleme haben wird zum Beispiel beim Malen deutlich. Ich wollte herausfinden, wie sie einfachste Formen malen würden und welche Farben sie verwenden würden. Könnte man etwas aus ihrem Gefühlszustand ablesen?
Erst einmal wurde sich um die Stifte geschlagen. Jeder Zweiertisch hatte die gleichen Farben. Das schnellere Kind nahm sich jedoch alle Farben, setzte sich auf sie drauf oder hielt sie fest in der Hand, an Teilen wurde nicht gedacht. Dieses stark ausgeprägte Besitzen möchten, war mir schon häufiger aufgefallen. Nach den Farbstiften zu fragen war auch ausgeschlossen, entweder wurde geheult oder dem anderen eine rein gehauen.
Als man alle ermutigt hatte, die Stifte zu teilen konnte es losgehen. Als Familien gemalt wurden stand jedes Familienmitglied einzeln, nicht einmal hielt sich jemand an den Händen. Das malende Kind malte sich häufig an den Rand. Der Papa, den man nie sah war auffallend oft groß in der Mitte gemalt. Jede Familie besaß Haustiere obwohl im Gefängnis keiner welche besitzt. Wieder andere überkritzelten das Bild mit dunkeln Stiften, manche auch obwohl sie sich beim Familienzeichen zuvor viel Mühe gegeben hatten. Ein anderes malte einzig eine kleine schwarze Sonne an den oberen Rand des Blattes. Man muss kein Psychologe sein, um sich über die Aussagekraft dieser Bilder Gedanken zu machen.
Abends war ich zum Geburtstag der Gastcousine des andern Freiwilligen, bei denen ich so oft zu hause war, eingeladen. Um sieben sollte das kleine Abendessen beginnen, aber gutgläubig wie ich war, war ich viel zu früh. Pünktlich zu kommen wird hier nicht erwartet. So musste ich noch 2einhalb Stunden warten, bis mehr als 4 Leute eingetroffen waren. Da außerdem noch nichts vorbereitet war, half ich sowohl beim Kochen, als auch Getränke kaufen.
Es ging gemütlich zu und ich konnte noch einmal über meine Gastfamilienerlebnisse der letzten Wochen klagen. Ich hoffte hier bei der Suche nach einer neuen Gastfamilie Hilfe zu finden. Freunde der Familie wären bereit jemanden aufzunehmen.
Auf einmal wurde ich von der Gastfamilie meines Freundes in ein Zimmer gebeten. Sie hätten mich die letzten Wochen ständig leiden gesehen. Da ich die letzten Wochen, sowieso fast täglich hier vorbei geschaut hätte, hätten sie sich überlegt mich gänzlich bei sich auf zu nehmen. Ich konnte es nicht glauben. Ich hatte es seit dem ersten Eintritt in dieses Haus immer heimlich gedacht. Am liebsten würde ich ebenfalls auf Dauer hier wohnen. Aber in meinem Kopf konnte ich dieses freundliche Angebot nicht einfach so verarbeiten. Die Familie wirkt sehr bescheiden und ist weit vom Einkommen meiner momentanen Gastfamilie entfernt. Außerdem müssen sie schon einen Fremden in ihrem kleinen Appartement durch füttern. Zudem kehrt ihr richtiger Sohn kommende Woche aus Amerika zurück. Wo soll in diesem Stockwerk Platz sein? Ich bedankte mich also für das Angebot und wiederholte noch einmal meine Bitte, mir einfach nur bei der Suche zu helfen. Sie meinen es ernst und ich solle mir keine Sorgen über Platz oder Geld machen. Sie bekämen, dass schon hin und hätten die letzten Tage gut darüber nachgedacht. Der einzige der zusagen müsse, sei ich. Ich war ob dieses unglaublichen Angebots sprachlos überwältigt. Ich bat um eine Nacht Bedenkzeit. Mittlerweile war es schon spät und das gemütliche Abendessen zu einem Familienumtrunk mutiert. Nun war es wieder so weit. Jeder Gast musste der Reihe nach ein paar ehrliche und freundliche Worte an das Geburtstagskind richten. Ein sehr schönes Geburtstagsritual bei dem eine höchst emotionale Stimmung entsteht und nicht selten die Tränen kullern. Mehr aus Rührung als aus ehrlichen, [verletzenden] Worten, versteht sich.
Es fuhren nun keine Busse mehr und so konnte ich meine Bedenknacht direkt hier verbringen.
freitag, 21. juni
Ich hatte mich entschieden, ich wollte es hier versuchen. Sie hatten mich angebettelt hier zu wohnen, sodass eine Ablehnung einer Beleidigung gleich käme. Doch dies war nicht der Grund. Ich wusste, dass ich mich in dieser Familie wohl fühlen würde. Es würde kein hinter dem Rücken verraten geben, es würde ein Gemeinschaftsgefühl geben, es würde sich nicht um Schein und Sein drehen. Ich würde in einer ehrlichen, bescheidenen Familie, ein unverfälschteres Bolivien, weg vom 2500$-Staubsaugern und Präsentationslocken kennen lernen. Ich würde in einer Familie voller Leben leben, in der man sich ernst genommen fühlt. Ich würde zwar weniger im Luxus leben, dafür jedoch glücklich sein. Denn eins hatte ich schon jetzt in Bolivien verinnerlicht. Alles Geld und alle Annehmlichkeiten lassen einem bei weiten nicht glücklicher und zufriedener leben. Oder frei nach einer Kreditkartenreklame. Eigenes Bad: $ 8597, 67. Drei Autos im geleckten japanischen Vorgarten: $97638,50. Wärme und Freude: unbezahlbar.
Ich teilte meinen Entschluss mit und die Freude war auf beiden Seiten groß. Wir vereinbarten AFS um Erlaubnis zu fragen und bei Zusage ab Sonntag alles für den Umzug in die Wege zu leiten.
Aufgrund des unruhigen Schlafs vieler Gedanken, schaffte ich es leider nicht an der Aymaraneujahresfeier teilzunehmen. Traditionell wird am kürzesten und kältesten Tag des Jahres zur Sonnenwendfeier ein Ritual abgehalten. Es werden Opfergaben gebracht, Schamanen lesen aus verschiedenen Naturgegebenheiten die Zukunft. Das größte und bekannteste findet an einer der ältesten Opfer- und Ritaulstätten Südamerikas statt. In Tiwanaku, ca. eineinhalb Autostunden von La Paz entfernt. Das ca. vor Christus gebaute Areal ist der archäologische Stolz Boliviens. Die Tiwanaku waren ein andines Volk, das mit der ersten zivilisierten Besiedlung mit Sozialsystem im Andenraum begann.Viele ihrer Innovationen im Handwerk, der Architektur und spiritueller Form wurden später von den bekannteren Inka übernommen. Die Kultur der Tiwanaku verschwand aus unklaren Ereignissen um ca. 1200 nach Christus völlig von der Bildfläche. Es gibt keine überlieferten Schriften oder Sprachen. Die Aymara, die später den das Hochplateau Boliviens bewohnten, scheinen nicht mit ihnen verwand zu sein. Der Brauch der Sonnenbegrüßung ist jedoch auch in ihrer Kultur wichtiger Bestandteil. Durch die jahrelange Unterdrückung aller Indigenen beginnend mit der Ankunft der Spanier bis zur heutigen Zeit, war es schwierig alle Bräuche aufzubewahren und im großen Kreise zu feiern. Dennoch wurden viele Sagen, Bräuche und Glauben der Prekolonialzeit durch Generationen konserviert. Viele Menschen Boliviens sind deswegen nach wie vor recht abergläubisch und offen für übernatürliche Theorien. Ausdruck der weiterwährenden Präsenz der Naturreligionen sind z.B. die ständigen Opfergaben an Pachamama. Mit der Ankunft des ersten indigenen Präsidenten Evo Morales stärken neue Gesetze die Rechte der Indigenen, die immer dreiviertel der Bevölkerung ausmachen. Seit dem beginnen alte Bräuche und Tänze wieder aufzukeimen und die Leute beginnen wieder mehr oder weniger stolz auf ihre Wurzeln zu sein.
Zurück zum Sonnengruß in Tiwanaku. Vor dem Sonnenaufgang versammeln sich mittlerweile tausende Leute, sowohl Bolivianer als auch Ausländer um den Gang der Sonne durch das Sonnentor Tiwanakus zu beobachten. Denn nur am 21. Juni zu Sonnenaufgang kann man dieses mythische Schauspiel betrachten. Um die bibbernde Kälte des Altiplanos zur kältesten Stunde in der kältesten Nacht des Jahres auszuhalten, wird sich wie so oft in Bolivien mit Alkohol gewärmt. Anschließend wird auf dem Opferaltar ein Lama geopfert und z.B. aus der Lage der Innereien die Zukunft gedeutet. Die Zeremonie wird von Schamanen durchgeführt, die mit speziellen Kräutermischungen und Sprüchen um ein gutes neues Jahr bitten. Mittlerweile ist dieses Ritual jedoch nahe an den Rand des Kommerz angelangt und auch der Präsident kann sich sein Erscheinen in Tiwanaku nicht mehr verkneifen. Zu wichtig ist die mediale Wirkung.
Zum Glück war deswegen heute Feiertag und ich konnte zuhause ein wenig Schlaf nachholen. Im baldigen Exhaus half mir meine Liebe fürs Rollenspielen, so zu tun als sei gestern nichts geschehen oder besprochen worden.
samstag, 22. juni
Es schien niemand zuhause zu sein, denn den ganzen Tag erblickte ich keine Menschenseele. Wir hatten uns zwar die letzten Tage versöhnt und die Stimmung war so gut wie lange nicht, dennoch war ich nicht sauer alleine sein zu dürfen. Es war seit Wochen das erste Wochenende zu Hause und es gab viele Ereignisse, die sich seitdem zugetragen hatten. Ein wenig verarbeiten tat ganz gut.  
sonntag, 23. juni
Heute besuchte ich das neu eröffnete olympische Schwimmbad. Eigentlich war es in den 70er Jahren erbaut, jedoch nie fertig gestellt worden. Vor zwei Jahren wurden die Bauarbeiten wieder aufgenommen und vor Wochen die Einweihung gefeiert. Geöffnet hatte es seit dieser Woche. Eine andere Freiwillige und ich wollten nun endlich die 50m Bahn ausprobieren um ungestört schwimmen zu gehen. Angekommen überraschte uns der Bademeister mit einem Eintrittskriterium. Um schwimmen zu dürfen, bräuchten wir ein Gesundheitszertifikat, da es aufgrund der Wassertiefe gefährlich sei zu schwimmen. Dieses werde im Sportministerium ausgestellt, das montags bis freitags von 9-12 und von 15-17 Uhr geöffnet hätte. Wer konnte schon zu diesen Zeiten ein Ministerium aufsuchen? Wollten sie nicht, dass das teuer rennovierte Schwimmbad genutzt wird? Welche Aussage hat ein Gesundheitsgutachten wenn man nicht schwimmen kann? Nach langer Überzeugungskunst durften wir ausnahmsweise hinein. Fertig gebaut war hier noch lange nichts, aber was tut man nicht alles für ein wenig Propaganda. Insgesamt schwammen 4 Schwimmer im großen Becken, heute wurden noch 8 Weitere erwartet. Das kurze Überschlagen der Personal und Heizkosten im Vergleich zu Eintrittseinnahmen ließ mich an eine tiefrote Zahl denken. Das Schwimmbad ist wohl mehr Prestige als Nutzobjekt. Seine beeindruckende Form mit geschwungenem Dach ist bereits von weiten zu erkennen. Man kann der Bevölkerung, die vom im Großteil vom Schwimmen ebenso viel Ahnung wie ein Lama hat, jedoch gerne vorspielen, dass mit diesem famosen Wassertempel eine neue Wassersportära eingeleitet wird. Und 2016 in Rio die Medaillen schneller purzeln, als man Evo sagen kann. Die Beziehung der Bolivianer zu Wasser im Allgemeinen könnte man ebenfalls sehr gut analysieren.
montag, 24. juni
Nach der Arbeit ging es Richtung neuer Behausung um im Esszimmer eine Nische für mein Bett zu schaffen. Alles musste raus, und der Boden seit 2 Jahren mal wieder nass gewischt werden. Erschöpft von zwei Arbeiten kam ich zuhause an. Meine Familie samt Freunden saß am Tisch. Heute war schon wieder Feiertag. FEHLLLLLLT Um die innere Kälte in den Abendstunden zu vertreiben wird sich mit warmen Speisen aufgewärmt. Traditionell wird Leche con Leche getrunken. Das erste Leche steht für warme Milch, die mit Zimt, Gewürznelken, reichlich Zucker und anderen Gewürzen abgeschmeckt wird. Das zweite Leche steht für den Singani, den bolivianischen Traubenbrand, der der Milch beigemischt wird. Ohne Alkohol geht es hier einfach nicht. Irgendwie muss die Wärme eben auch im Körper gehalten werden. Als Speise stehen seit einigen Jahren traditionell Hotdogs auf dem Plan. Der hiesigen Wurstindustrie wird hierfür ein nicht kleiner Anteil zugeschrieben. So wurde gegessen und belanglose ZonaSur-Gespräche geführt. „Ach wie schön war doch neulich,… wie witzig dies und das…“ Irgendwann hörte ich nur noch halb hin. Ich war glücklich dieser heilen Scheinwelt [wie sie mir vorkam] bald zu entfliehen. Bis zum Wochenende musste ich noch verheimlichen, dass ich ab nächster Woche hier nicht mehr mit am Tisch sitzen würde.
dienstag, 25. juni
Wie immer hatte ich an der Tür zum Gefängnis geklopft, wie immer hatte ein Polizist geöffnet. Nur die Kinder wollten heute nicht kommen. Eine aufgewühlte Mutter bat mich um Verständnis. Ein Polizist konnte mir schließlich den Sachverhalt erklären. Aufgrund eines neuen Gesetzes hatte es wohl große Unruhen im Gefängnis gegeben. Das Gesetz verbietet, dass Kinder über 6 Jahren sich im Gefängnis bei ihren Eltern aufhalten. Diese Reglung besteht zwar schon, doch sie wurde nie kontrolliert und eingehalten. Die Regierung lies nun in einer Mitteilung verlauten, dass alle Kinder, die dieses Alter überschritten haben, bis zum Ende des Jahres woanders untergebracht werden. Dabei kam es zu einem Vorfall im Männergefängnis San Pedro. Die Polizei gewährte einigen zu alten Kindern, nachdem sie von der Schule zurückgekommen waren keinen Einlass. Stattdessen wurden sie aufgesammelt und an einen anderen Ort gefahren. Die Frauen hatten nun Angst, dass ihren Kindern das gleiche Schicksal widerfahren würde.

Meine freie Zeit verwendete ich um das Spielgelände samt Fußballplatz von reinragenden Ästen zu befreien. Meine Hände und Klamotten waren aufgekratzt und verharzt. Es war eine Qual durchs Unterholz zu kriechen und mit einer stumpfen Schere und wackelnden Sägeblatt die Bäume zu stutzen. Trotzdem ging ich am Ende des Tages, froh etwas Nützliches getan zu haben, glücklich nachhause.