Mittwoch, 10. Juli 2013

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mittwoch, 26. juni

Vor einer Woche traf eine spanische Architektin von Architekten ohne Grenzen im Projekt ein. Sie wird auf dem Gelände nebenan, das ebenfalls zu meiner Stiftung gehört, bis Ende Oktober ein Bauprojekt abschließen. Um einige der Kinder dauerhaft außerhalb des Gefängnisses unterzubringen werden 5 Wohneinheiten für jeweils fünf Kinder plus einen Lehrer gebaut. Jede Wohneinheit besitzt Schlafräume, Küche, Bad und Aufenthalts-/Esszimmer. Der gesamte Komplex wird zudem durch einen großen Aufenthaltsraum, einen Nutzgarten und ein kleines Gehege ergänzt. Drei der fünf Häuser wurden bereits letztes Jahr fertig gestellt, der Rest soll nun mit neuem Geld folgen. Es werden Arbeitskräfte benötigt und ich bin mehr als willkommen zu helfen. Diese Baustelle kommt wie gerufen für mich. Momentan gibt es an den kinderfreien Tagen leider wenig zu tun und ich spiele schon seit langem mit dem Gedanken Architekt zu werden. Meine Arbeitszeit kann ich also im doppelten Sinne nutzen. Ich werde gleichzeitig helfen und dabei etwas über das Bauen, Mitarbeiterführung und Wertstoffplanung lernen. Die Pläne stehen bereits und müssen nun an das Gelände angepasst werden. Heute durfte ich beim Grundrissemarkieren helfen. Um die runden Formen exakt auf den Boden zu bringen, wurde aus Draht und Eisenstift ein improvisierter Zirkel gebaut, mit dem wir den Grundriss in den Boden ritzten. Anschließend wurden die Markierungen mit Kalk bestreut um zu wissen, welche Bodenpartien für das Fundament heraus gegraben werden mussten. Es machte Spaß und ich hoffe, ich werde die nächsten Wochen noch häufiger die Chance haben, hier zugegen zu sein.

donnerstag, 27.juni

Auch heute kamen die Kinder nicht, die Angst nicht wieder eingelassen zu werden war zu groß. Dafür erfuhren wir heute, dass die Gefängnismütter Suma Qamaña nicht mehr trauten. In einem Fernsehbericht war die Frage aufgekommen, ob es denn schon Kapazitäten geben würde, wo alle Kinder ab Ende des Jahres untergebracht werden könnten. Ein Regierungssprecher gab zu Antwort, dass man mit vielen Organisationen in Kontakt stünde und Suma Qamaña schon jetzt 100 Kinder zum Wohnen aufnehmen könne. Pure Blufferei um von einer undurchdachten Entscheidung abzulenken. Mit uns hatte natürlich keiner gesprochen. Stattdessen warten wir noch immer auf das Einlösen unseres Vertrages mit der Regierung. Seit Januar hätte uns Geld für Transport, Essen und Unterbringung der Kinder überwiesen werden müssen. Bis heute erreichte Suma Qamaña kein Centavo. Dabei war Anfang des mit großen Bimbamborium und Fernsehdelegation dieser wichtige Schritt „für unsere Kinder“ vollzogen worden. Sich jetzt auf uns zu berufen, war einfach nur dreist und ein schwerer Imageschaden für uns. Die Mütter werden so schnell kein Vertrauen in einer Organisation finden, die ihnen ihre Kinder wegnehmen will. Über die bolivianische Regierung kann man des Öfteren nur den Kopf schütteln.
Nachmittags half ich noch einmal bei der Baustelle mit.
Abends fuhr ich das erste Mal über El Alto Richtung Stadt. Heute wurde mein neues Bett im neuen Zuhause aufgebaut. Nach einem kleinen Abendessen im neuen Familienkreis fuhr ich durch die ganze Stadt zum Nochhaus. In meiner Nochbleibe durfte ich mir weiter nichts vom bevorstehenden Wechsel anmerken lassen, was nicht weiter schwer war, da alle Familienmitglieder ausgeflogen schienen.  

freitag, 28. juni

Heute Morgen hatte ich bereits mit dem Packen begonnen. Alle Schränke waren leer und mein Rucksack voll. Ich konnte es kaum noch abwarten. Plötzlich stand meine Gastmutter im Zimmer, was sonst nie geschah. Außer der Empleada wusste noch keiner im Haus Bescheid, dass ich morgen umziehen würde. Eine Schrecksekunde. Zum Glück war schon alles im Rucksack verstaut. Noch vor ein paar Minuten war in meinem Zimmer ein Haufen zusammengelegter Klamotten und sonstiger Habseligkeiten gelegen. Hätte sie das gesehen, wäre ein unangenehmes Gespräch unausweichlich geworden.

Im Projekt hatte ich vor Tagen die Idee gehabt den gesammelten Lamakot in einer Jauchegrube zu sammeln, um ihn dann als Dünger für unsere Nutzgärten zu verwenden. Zwar war er bereits vorher als Dünger verwendet worden, doch unzersetzt und in ganzen Stücken nützen die trockenen Köttel dem Boden so wenig wie ins Beet gelegte Steine. Ich verkleidete also ein Loch mit Plastikplane und schaufelte die Exkremente hinein. Anschließend goss ich Wasser dazu um das Gemeng richtig schmackhaft zu gestalten.
Abends erfuhr ich dann warum meine Gastfamilie die letzten Abende immer erst spät nachhause gekommen war. Der Onkel, den ich sehr gern hatte, lag im Krankenhaus. Ein Problem mit seiner Leber hatte seine Haut und Augen gelb gefärbt und er war gerade noch rechtzeitig eingeliefert worden. Schön, dass man eine solche Information 3 Tage später auch endlich erfährt. Sie hatten währenddessen von AFS erfahren, dass heute unser letzter gemeinsamer Abend anstand. Es gab Pizza und Versprechen auf jeden Fall weiter in Kontakt zu bleiben, da wir eine so tolle gemeinsame Zeit gehabt hatten. Wir redeten noch ein bisschen ausführlicher und es gab von beiden Seiten kleine Schuldeingeständnisse. Außerdem interessierten sie sich das erste Mal ernsthaft für meine Arbeit. Sie waren bestürzt, dass es über 1000 Kinder in La Paz gibt, die im Gefängnis wohnen müssen. Als normaler Bürger hätte man doch überhaupt keine Möglichkeit an solche Informationen zu gelangen. Auch das mir ständig Drogen angeboten würden, lies sie ungläubig dreinblicken. Drogen an öffentlichen Plätzen, das könne nicht sein. Was seien denn die Preise und seien es gute Waren? Mir wurde wieder bewusst in welch abgekapselter Welt sie lebten und war froh ab morgen in einer Familie zu leben, die vor den hiesigen Missständen die Augen nicht verschloss und offen darüber redete. Andererseits waren die Wochen seit dem Vorfall sehr angenehm verlaufen und ich hatte mich hier wieder wohl gefühlt. Es war dennoch die richtige Entscheidung zu gehen, denn es war nur eine Frage der Zeit bis wieder etwas Seltsames, ein unvorhergesehener Ausbruch oder eine Beschuldigung geschehen würde. Die fehlende Verbindung zwischen ihnen und mir würde nie hergestellt werden können. Außerdem war es in diesem Haus einfach langweilig.

samstag, 29. juni

Gegen sechs Uhr stand ich auf um alles vorzubereiten. Die letzten Sachen wurden verpackt. Ich wollte sie auf ein leckeres gemeinsames Frühstück einladen. Die am Vortag gekauften Früchte wurden für einen Fruchtsalat geschält und geschnitten, der Tisch gedeckt und gewartet bis mein Gastvater aufstand um mit mir Salteñas kaufen zu gehen. Wie alles in der Zona Sur waren sie etwas teurer als normal, dafür ausgesprochen lecker und frisch zubereitet. Das Frühstück verlief bis auf das nicht alles aufgegessen wurde ohne Zwischenfälle. Meine Sachen und ich waren abfahrtsbereit aber der letzte Lockenwickler meiner Gastmutter musste noch gesetzt werden. Wir kamen mehr als eine Stunde zu spät am AFSbüro an. Sie hatten schon angerufen und gefragt, ob meine Familie mich nicht gehen lassen wollte. Der Abschied verlief schmerzfrei und kurz und wir verhandelten, dass wir morgen gemeinsam den kranken Gastonkel im Krankenhaus besuchen würden. Mit dem Taxi und der AFS-Mitarbeiterin ging es weiter Richtung jetzt offizieller Gastfamilie. Es war einer der wenigen Taxifahrer in La Paz, die ich bis jetzt ausschweifend reden gehört hatte.
Als wir all meine Sachen ausgepackt hatten, wurde ich freundlich zuhause wilkommen geheißen, es wurde ein gemeinsamer Tee mit der AFStante getrunken, die dabei los ließ, dass sie meine Exgastfamilie ebenfalls nicht leiden konnte, vor allem die Mutter für unberechenbar hielt. Ich räumte alles ein und legte mich erst einmal aufs Bett. All die Sachen, die ich die letzten Tage von der frühen Morgen- bis zur späten Abendstunde erledigt hatte, machten sich bemerkbar. Es war vollbracht, eine wahre Last fiel von meinem Körper.

sonntag, 30. juni

Mit meiner neuen Gastschwester ging ich nachmittags nach El Alto, auf die Feria 16 de Julio. Die Straßen eines ganzen Stadtviertel sind gefüllt mit allen Sachen, die man sich zu kaufen vorstellen kann. Vom Flugzeugsitz bis zum Pinguin, von 3m-Plüschbären bis zu gebrauchten Designerklamotten aus den USA. Und alles zu günstigsten Preisen. Ich wollte lediglich ein paar alte Klamotten erwerben, da meine Kleidung durch die viele körperliche Arbeit im Projekt doch sehr in Mitleidenschaft gezogen wurde. Für 3€ hatte ich am Ende des Tages neue Hausschuhe, eine gebrauchte Jeans, zwei Pullover zum Arbeiten, eine warme Jacke gekauft und zusätzlich noch einen Teller „Ranga“ – Kuhmagen mit Salat und Kartoffeln gegessen. Den meisten Spaß hat man jedoch beim Beobachten all der seltsamen Objekte die zu Verkauf stehen. Eine Straße ist z.B. mit ausgebauten Autoteilen gefüllt, von denen man selten den exakten Einsatzort erahnen kann, da sie bis zur kleinsten Mutter auseinander geschraubt wurden. Auch Verkaufsgesprächen zu lauschen hat seinen Unterhaltungswert. Jeder möchte seinen letzten Kram an den Mann bringen, sobald man seinen Blick zu lange auf etwas gerichtet hat. „Llevarte pues joven!“ – „Nimm’s doch mit, Junge!“
Eine Verkäuferin wollte dem Freund meiner Gastschwester eine Lederpeitsche verkaufen. „Nimm sie doch für deine Ehefrau mit.“ – „Und was soll sie damit machen?“ – „Geschlagen werden.“ – „Im Ernst?“ – „ Ja, die ist gut. Mein Mann wendet sie auch die ganze Zeit an. Sieh her.“ Unverholen zeigte sie einen Striemen auf ihrer Schulter. Verkaufssprüche wie „Diese wunderbaren Ski bin ich auch schon gefahren“, kennt man ja. Aber gegen ein solches Statement wirken diese nahezu lächerlich. Andererseits erhascht man hierdurch auch einen Einblick in Denkweisen der dörflichen Gesellschaft des Hochlands. Der Mann ist der Herrscher und darf seine Frau behandeln, wie er möchte. Häusliche Gewalt ist hier ein starkes Problem. Alle drei Tage stirbt eine bolivianische Frau an Folgen der Schläge ihres „Liebsten“.
Meine Gastschwester, energische Frauenrechtlerin, war von der Aussage einer Frau, die mit Stolz eine Misshandlung zu Schau stellte, erbost. Nicht über die Verkäuferin sondern die Gesellschaft, die dies als normal hinnimmt.

montag, 1. juli

Meine Gastfamilie ist physonomisch sehr klein, geradezu winzig. Das lerne ich nun auf die neue Art. Ins Bett passe ich nicht einmal diagonal und beim Eintritt in die Küche stieß ich mir verschlafen den Kopf.
Im Projekt kam heute eine neue Freiwillige an, die ebenfalls mit mir in Bolivien angekommen war und ebenfalls Projekt und Familie wechselte. So zeigte ich ihr alles und versuchte ihr Umgangstipps mit den Kindern zu geben, die ab morgen wieder kommen sollten.

dienstag, 2. juli

Die Kinder waren tatsächlich wieder da. Im Bus sang ich mit den Kindern: „Alle meine Entchen“ und „Drei Chinesen mit dem Kontrabass“. Alle Kinder fanden die ungewohnten Lieder samt ungewohnter Sprache enorm witzig und waren so abgelenkt, dass sie gar nicht auf die Idee kamen, sich zu hauen. Sie wollten unbedingt den Text lernen und waren anschließend stolz mir ein spanisches Kinderlied beizubringen. Als wir ankamen, drehten sie auf einmal auf. Die neue Lehrerin war natürlich das Thema. Mein vorbereitetes Programm konnte ich dem Wind trällern, es hatte heute keinen Sinn mit ihnen zu arbeiten. Irgendwie schienen alle aufgewühlt. Vielleicht war die Angst der letzten Wochen bald die Familie verlassen zu müssen noch nicht verblasst. Schuld war allerdings auch die ungewohnte Altersverteilung. Aufgrund der begonnenen Schulferien gab es einen höheren Anteil älterer Kinder, die dienstags normalerweise die Schulbänke drückten. Die Ältern lassen sich noch weniger sagen, haben einen stärkeren eigenen Willen und bei ihren Schlägen fließt normalerweise schnell Blut. Zu genau einer solchen Schlägerei war es gekommen. Beim friedlichen Fußballspiel gab es zwischen einem Mittleren und einem Älteren Unstimmigkeiten, wer den Ball passen sollte. Natürlich flogen sofort Fäuste und Beine. Diese plötzliche Kampfbereitschaft und Aggressivität macht mich manchmal ungläubig. Noch bin ich stärker und konnte die beiden Streithähne am Schlawittich packen und trennen. Als sie sich einigermaßen beruhigt hatten und zur Entschuldigung die Hand geben sollten, setzte es den nächsten Tritt. Es hatte keinen Zweck. Gerade hatte ich den Ältern der beiden der Direktorin übergeben, da machte er sich los, sprang über die Mauer und rannte davon.
Ich ging mit ein wenig Abstand hinterher um ihm keine Angst zu machen. Der Rest meiner Gruppe sollte von jemand Anderen überwacht werden. Er hatte mich mittlerweile bemerkt und machte langsamer, es schien als wolle er, dass ich ihn einhole. Heulend setzte er sich auf eine Mauer. Ich legte meinen Arm um ihn und begann ihn zu beruhigen und mit Nachfragen über Schule, Freunde und Fußball sein Vertrauen zu gewinnen. Es täte ihm Leid, und er wisse, dass er nie wieder zu Suma kommen dürfe, obwohl er diesen Ort so liebte. Er hatte Angst, seine Freunde aus dem Gefängnis und seine Eltern nie wieder zusehen. Bald würde man ihn dort wegreißen. Er würde nur schlecht behandelt werden und keiner würde sich um ihn kümmern. Seine Eltern würde er nur noch alle 3 Monate sehen können. Die Eltern trichtern ihren Kindern wohl gut ein, wie schlimm alle Menschen außerhalb der Gitter sind. Ich hatte also nicht Unrecht mit meiner Theorie gehabt, warum es heute so unruhig gewesen war. Die Regierungspläne über die Gefängniskinder schafften nur Panik. In den Gefängnissen wurden schon die wildesten Theorien gesponnen und den Kindern übertriebene Angst eingejagt. Spätestens jetzt wurde einem wieder mehr als deutlich, welchen Umständen diese Kinder ausgesetzt sind.
Kleine Spiele wie Steinweitwurf und gutes Zureden, bei dem ich ihm deutlich machte, dass sich vieles zum Guten wenden würde, beruhigten ihn. Ich erzählte ihm, dass auch ich meine Eltern seit sechs Monaten nicht mehr gesehen hatte und dass wenn man sich wieder trifft alles beim Alten ist. Nein, seine Eltern würden ihn nicht vergessen.

Ich konnte ihn überreden wieder zum Projekt zurückzukehren. Auf dem Weg zurück und in Einzelbehandlung erzählte er mir tausend Kindheitserinnerungen und blickte wehmütig auf die Fotos im Klassenraum, in dem er sich beruhigen sollte. „Das ist der, und das jener, die lebt mittlerweile nicht mehr im Gefängnis, der auch nicht. Hier haben wir das gemacht, dort das. Das war eine schöne Zeit.“ Ich war stolz nur mit Worten sein Vertrauen gefunden zu haben  und stolz die erste knifflige Situation einigermaßen souverän gemeistert zu haben. Dass die Situation aller Kinder im Gefängnis unzumutbar und dringend geändert werden musste, war wie in meinen Kopf gemeißelt.

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