mittwoch, 26. juni
Vor einer Woche traf eine spanische Architektin von
Architekten ohne Grenzen im Projekt ein. Sie wird auf dem Gelände nebenan, das
ebenfalls zu meiner Stiftung gehört, bis Ende Oktober ein Bauprojekt
abschließen. Um einige der Kinder dauerhaft außerhalb des Gefängnisses
unterzubringen werden 5 Wohneinheiten für jeweils fünf Kinder plus einen Lehrer
gebaut. Jede Wohneinheit besitzt Schlafräume, Küche, Bad und
Aufenthalts-/Esszimmer. Der gesamte Komplex wird zudem durch einen großen
Aufenthaltsraum, einen Nutzgarten und ein kleines Gehege ergänzt. Drei der fünf
Häuser wurden bereits letztes Jahr fertig gestellt, der Rest soll nun mit neuem
Geld folgen. Es werden Arbeitskräfte benötigt und ich bin mehr als willkommen
zu helfen. Diese Baustelle kommt wie gerufen für mich. Momentan gibt es an den
kinderfreien Tagen leider wenig zu tun und ich spiele schon seit langem mit dem
Gedanken Architekt zu werden. Meine Arbeitszeit kann ich also im doppelten
Sinne nutzen. Ich werde gleichzeitig helfen und dabei etwas über das Bauen,
Mitarbeiterführung und Wertstoffplanung lernen. Die Pläne stehen bereits und
müssen nun an das Gelände angepasst werden. Heute durfte ich beim Grundrissemarkieren
helfen. Um die runden Formen exakt auf den Boden zu bringen, wurde aus Draht
und Eisenstift ein improvisierter Zirkel gebaut, mit dem wir den Grundriss in
den Boden ritzten. Anschließend wurden die Markierungen mit Kalk bestreut um zu
wissen, welche Bodenpartien für das Fundament heraus gegraben werden mussten. Es
machte Spaß und ich hoffe, ich werde die nächsten Wochen noch häufiger die
Chance haben, hier zugegen zu sein.
donnerstag, 27.juni
Auch heute kamen die Kinder nicht, die Angst nicht wieder
eingelassen zu werden war zu groß. Dafür erfuhren wir heute, dass die
Gefängnismütter Suma Qamaña nicht mehr trauten. In einem Fernsehbericht war die
Frage aufgekommen, ob es denn schon Kapazitäten geben würde, wo alle Kinder ab
Ende des Jahres untergebracht werden könnten. Ein Regierungssprecher gab zu
Antwort, dass man mit vielen Organisationen in Kontakt stünde und Suma Qamaña
schon jetzt 100 Kinder zum Wohnen aufnehmen könne. Pure Blufferei um von einer
undurchdachten Entscheidung abzulenken. Mit uns hatte natürlich keiner
gesprochen. Stattdessen warten wir noch immer auf das Einlösen unseres
Vertrages mit der Regierung. Seit Januar hätte uns Geld für Transport, Essen
und Unterbringung der Kinder überwiesen werden müssen. Bis heute erreichte Suma
Qamaña kein Centavo. Dabei war Anfang des mit großen Bimbamborium und
Fernsehdelegation dieser wichtige Schritt „für unsere Kinder“ vollzogen worden.
Sich jetzt auf uns zu berufen, war einfach nur dreist und ein schwerer
Imageschaden für uns. Die Mütter werden so schnell kein Vertrauen in einer
Organisation finden, die ihnen ihre Kinder wegnehmen will. Über die
bolivianische Regierung kann man des Öfteren nur den Kopf schütteln.
Nachmittags half ich noch einmal bei der Baustelle mit.
Abends fuhr ich das erste Mal über El Alto Richtung Stadt. Heute
wurde mein neues Bett im neuen Zuhause aufgebaut. Nach einem kleinen Abendessen
im neuen Familienkreis fuhr ich durch die ganze Stadt zum Nochhaus. In meiner
Nochbleibe durfte ich mir weiter nichts vom bevorstehenden Wechsel anmerken lassen,
was nicht weiter schwer war, da alle Familienmitglieder ausgeflogen schienen.
freitag, 28. juni
Heute Morgen hatte ich bereits mit dem Packen begonnen. Alle
Schränke waren leer und mein Rucksack voll. Ich konnte es kaum noch abwarten. Plötzlich
stand meine Gastmutter im Zimmer, was sonst nie geschah. Außer der Empleada wusste
noch keiner im Haus Bescheid, dass ich morgen umziehen würde. Eine
Schrecksekunde. Zum Glück war schon alles im Rucksack verstaut. Noch vor ein
paar Minuten war in meinem Zimmer ein Haufen zusammengelegter Klamotten und
sonstiger Habseligkeiten gelegen. Hätte sie das gesehen, wäre ein unangenehmes
Gespräch unausweichlich geworden.
Im Projekt hatte ich vor Tagen die Idee gehabt den
gesammelten Lamakot in einer Jauchegrube zu sammeln, um ihn dann als Dünger für
unsere Nutzgärten zu verwenden. Zwar war er bereits vorher als Dünger verwendet
worden, doch unzersetzt und in ganzen Stücken nützen die trockenen Köttel dem
Boden so wenig wie ins Beet gelegte Steine. Ich verkleidete also ein Loch mit Plastikplane
und schaufelte die Exkremente hinein. Anschließend goss ich Wasser dazu um das
Gemeng richtig schmackhaft zu gestalten.
Abends erfuhr ich dann warum meine Gastfamilie die letzten
Abende immer erst spät nachhause gekommen war. Der Onkel, den ich sehr gern
hatte, lag im Krankenhaus. Ein Problem mit seiner Leber hatte seine Haut und
Augen gelb gefärbt und er war gerade noch rechtzeitig eingeliefert worden. Schön,
dass man eine solche Information 3 Tage später auch endlich erfährt. Sie hatten
währenddessen von AFS erfahren, dass heute unser letzter gemeinsamer Abend
anstand. Es gab Pizza und Versprechen auf jeden Fall weiter in Kontakt zu
bleiben, da wir eine so tolle gemeinsame Zeit gehabt hatten. Wir redeten noch
ein bisschen ausführlicher und es gab von beiden Seiten kleine
Schuldeingeständnisse. Außerdem interessierten sie sich das erste Mal ernsthaft
für meine Arbeit. Sie waren bestürzt, dass es über 1000 Kinder in La Paz gibt, die
im Gefängnis wohnen müssen. Als normaler Bürger hätte man doch überhaupt keine
Möglichkeit an solche Informationen zu gelangen. Auch das mir ständig Drogen
angeboten würden, lies sie ungläubig dreinblicken. Drogen an öffentlichen
Plätzen, das könne nicht sein. Was seien denn die Preise und seien es gute
Waren? Mir wurde wieder bewusst in welch abgekapselter Welt sie lebten und war
froh ab morgen in einer Familie zu leben, die vor den hiesigen Missständen die
Augen nicht verschloss und offen darüber redete. Andererseits waren die Wochen
seit dem Vorfall sehr angenehm verlaufen und ich hatte mich hier wieder wohl
gefühlt. Es war dennoch die richtige Entscheidung zu gehen, denn es war nur
eine Frage der Zeit bis wieder etwas Seltsames, ein unvorhergesehener Ausbruch
oder eine Beschuldigung geschehen würde. Die fehlende Verbindung zwischen ihnen
und mir würde nie hergestellt werden können. Außerdem war es in diesem Haus
einfach langweilig.
samstag, 29. juni
Gegen sechs Uhr stand ich auf um alles vorzubereiten. Die
letzten Sachen wurden verpackt. Ich wollte sie auf ein leckeres gemeinsames Frühstück
einladen. Die am Vortag gekauften Früchte wurden für einen Fruchtsalat geschält
und geschnitten, der Tisch gedeckt und gewartet bis mein Gastvater aufstand um mit
mir Salteñas kaufen zu gehen. Wie alles in der Zona Sur waren sie etwas teurer
als normal, dafür ausgesprochen lecker und frisch zubereitet. Das Frühstück
verlief bis auf das nicht alles aufgegessen wurde ohne Zwischenfälle. Meine
Sachen und ich waren abfahrtsbereit aber der letzte Lockenwickler meiner
Gastmutter musste noch gesetzt werden. Wir kamen mehr als eine Stunde zu spät
am AFSbüro an. Sie hatten schon angerufen und gefragt, ob meine Familie mich
nicht gehen lassen wollte. Der Abschied verlief schmerzfrei und kurz und wir
verhandelten, dass wir morgen gemeinsam den kranken Gastonkel im Krankenhaus
besuchen würden. Mit dem Taxi und der AFS-Mitarbeiterin ging es weiter Richtung
jetzt offizieller Gastfamilie. Es war einer der wenigen Taxifahrer in La Paz,
die ich bis jetzt ausschweifend reden gehört hatte.
Als wir all meine Sachen ausgepackt hatten, wurde ich
freundlich zuhause wilkommen geheißen, es wurde ein gemeinsamer Tee mit der
AFStante getrunken, die dabei los ließ, dass sie meine Exgastfamilie ebenfalls
nicht leiden konnte, vor allem die Mutter für unberechenbar hielt. Ich räumte
alles ein und legte mich erst einmal aufs Bett. All die Sachen, die ich die
letzten Tage von der frühen Morgen- bis zur späten Abendstunde erledigt hatte,
machten sich bemerkbar. Es war vollbracht, eine wahre Last fiel von meinem
Körper.
sonntag, 30. juni
Mit meiner neuen Gastschwester ging ich nachmittags nach El
Alto, auf die Feria 16 de Julio. Die Straßen eines ganzen Stadtviertel sind
gefüllt mit allen Sachen, die man sich zu kaufen vorstellen kann. Vom
Flugzeugsitz bis zum Pinguin, von 3m-Plüschbären bis zu gebrauchten
Designerklamotten aus den USA. Und alles zu günstigsten Preisen. Ich wollte
lediglich ein paar alte Klamotten erwerben, da meine Kleidung durch die viele körperliche
Arbeit im Projekt doch sehr in Mitleidenschaft gezogen wurde. Für 3€ hatte ich
am Ende des Tages neue Hausschuhe, eine gebrauchte Jeans, zwei Pullover zum
Arbeiten, eine warme Jacke gekauft und zusätzlich noch einen Teller „Ranga“ –
Kuhmagen mit Salat und Kartoffeln gegessen. Den meisten Spaß hat man jedoch
beim Beobachten all der seltsamen Objekte die zu Verkauf stehen. Eine Straße
ist z.B. mit ausgebauten Autoteilen gefüllt, von denen man selten den exakten
Einsatzort erahnen kann, da sie bis zur kleinsten Mutter auseinander geschraubt
wurden. Auch Verkaufsgesprächen zu lauschen hat seinen Unterhaltungswert. Jeder
möchte seinen letzten Kram an den Mann bringen, sobald man seinen Blick zu
lange auf etwas gerichtet hat. „Llevarte pues joven!“ – „Nimm’s doch mit,
Junge!“
Eine Verkäuferin wollte dem Freund meiner Gastschwester eine
Lederpeitsche verkaufen. „Nimm sie doch für deine Ehefrau mit.“ – „Und was soll
sie damit machen?“ – „Geschlagen werden.“ – „Im Ernst?“ – „ Ja, die ist gut.
Mein Mann wendet sie auch die ganze Zeit an. Sieh her.“ Unverholen zeigte sie
einen Striemen auf ihrer Schulter. Verkaufssprüche wie „Diese wunderbaren Ski
bin ich auch schon gefahren“, kennt man ja. Aber gegen ein solches Statement
wirken diese nahezu lächerlich. Andererseits erhascht man hierdurch auch einen
Einblick in Denkweisen der dörflichen Gesellschaft des Hochlands. Der Mann ist
der Herrscher und darf seine Frau behandeln, wie er möchte. Häusliche Gewalt
ist hier ein starkes Problem. Alle drei Tage stirbt eine bolivianische Frau an
Folgen der Schläge ihres „Liebsten“.
Meine Gastschwester, energische Frauenrechtlerin, war von
der Aussage einer Frau, die mit Stolz eine Misshandlung zu Schau stellte,
erbost. Nicht über die Verkäuferin sondern die Gesellschaft, die dies als
normal hinnimmt.
montag, 1. juli
Meine Gastfamilie ist physonomisch sehr klein, geradezu
winzig. Das lerne ich nun auf die neue Art. Ins Bett passe ich nicht einmal
diagonal und beim Eintritt in die Küche stieß ich mir verschlafen den Kopf.
Im Projekt kam heute eine neue Freiwillige an, die ebenfalls
mit mir in Bolivien angekommen war und ebenfalls Projekt und Familie wechselte.
So zeigte ich ihr alles und versuchte ihr Umgangstipps mit den Kindern zu
geben, die ab morgen wieder kommen sollten.
dienstag, 2. juli
Die Kinder waren tatsächlich wieder da. Im Bus sang ich mit
den Kindern: „Alle meine Entchen“ und „Drei Chinesen mit dem Kontrabass“. Alle
Kinder fanden die ungewohnten Lieder samt ungewohnter Sprache enorm witzig und
waren so abgelenkt, dass sie gar nicht auf die Idee kamen, sich zu hauen. Sie
wollten unbedingt den Text lernen und waren anschließend stolz mir ein
spanisches Kinderlied beizubringen. Als wir ankamen, drehten sie auf einmal
auf. Die neue Lehrerin war natürlich das Thema. Mein vorbereitetes Programm konnte
ich dem Wind trällern, es hatte heute keinen Sinn mit ihnen zu arbeiten. Irgendwie
schienen alle aufgewühlt. Vielleicht war die Angst der letzten Wochen bald die
Familie verlassen zu müssen noch nicht verblasst. Schuld war allerdings auch
die ungewohnte Altersverteilung. Aufgrund der begonnenen Schulferien gab es
einen höheren Anteil älterer Kinder, die dienstags normalerweise die Schulbänke
drückten. Die Ältern lassen sich noch weniger sagen, haben einen stärkeren
eigenen Willen und bei ihren Schlägen fließt normalerweise schnell Blut. Zu
genau einer solchen Schlägerei war es gekommen. Beim friedlichen Fußballspiel
gab es zwischen einem Mittleren und einem Älteren Unstimmigkeiten, wer den Ball
passen sollte. Natürlich flogen sofort Fäuste und Beine. Diese plötzliche
Kampfbereitschaft und Aggressivität macht mich manchmal ungläubig. Noch bin ich
stärker und konnte die beiden Streithähne am Schlawittich packen und trennen. Als
sie sich einigermaßen beruhigt hatten und zur Entschuldigung die Hand geben
sollten, setzte es den nächsten Tritt. Es hatte keinen Zweck. Gerade hatte ich den
Ältern der beiden der Direktorin übergeben, da machte er sich los, sprang über
die Mauer und rannte davon.
Ich ging mit ein wenig Abstand hinterher um ihm keine Angst
zu machen. Der Rest meiner Gruppe sollte von jemand Anderen überwacht werden.
Er hatte mich mittlerweile bemerkt und machte langsamer, es schien als wolle
er, dass ich ihn einhole. Heulend setzte er sich auf eine Mauer. Ich legte
meinen Arm um ihn und begann ihn zu beruhigen und mit Nachfragen über Schule,
Freunde und Fußball sein Vertrauen zu gewinnen. Es täte ihm Leid, und er wisse,
dass er nie wieder zu Suma kommen dürfe, obwohl er diesen Ort so liebte. Er
hatte Angst, seine Freunde aus dem Gefängnis und seine Eltern nie wieder
zusehen. Bald würde man ihn dort wegreißen. Er würde nur schlecht behandelt
werden und keiner würde sich um ihn kümmern. Seine Eltern würde er nur noch
alle 3 Monate sehen können. Die Eltern trichtern ihren Kindern wohl gut ein,
wie schlimm alle Menschen außerhalb der Gitter sind. Ich hatte also nicht
Unrecht mit meiner Theorie gehabt, warum es heute so unruhig gewesen war. Die
Regierungspläne über die Gefängniskinder schafften nur Panik. In den
Gefängnissen wurden schon die wildesten Theorien gesponnen und den Kindern
übertriebene Angst eingejagt. Spätestens jetzt wurde einem wieder mehr als
deutlich, welchen Umständen diese Kinder ausgesetzt sind.
Kleine Spiele wie Steinweitwurf und gutes Zureden, bei dem
ich ihm deutlich machte, dass sich vieles zum Guten wenden würde, beruhigten
ihn. Ich erzählte ihm, dass auch ich meine Eltern seit sechs Monaten nicht mehr
gesehen hatte und dass wenn man sich wieder trifft alles beim Alten ist. Nein,
seine Eltern würden ihn nicht vergessen.
Ich konnte ihn überreden wieder zum Projekt zurückzukehren.
Auf dem Weg zurück und in Einzelbehandlung erzählte er mir tausend
Kindheitserinnerungen und blickte wehmütig auf die Fotos im Klassenraum, in dem
er sich beruhigen sollte. „Das ist der, und das jener, die lebt mittlerweile
nicht mehr im Gefängnis, der auch nicht. Hier haben wir das gemacht, dort das.
Das war eine schöne Zeit.“ Ich war stolz nur mit Worten sein Vertrauen gefunden
zu haben und stolz die erste knifflige
Situation einigermaßen souverän gemeistert zu haben. Dass die Situation aller
Kinder im Gefängnis unzumutbar und dringend geändert werden musste, war wie in
meinen Kopf gemeißelt.
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